Warum du Politessen nicht magst. Und warum das richtig so ist.

„Sie müssen hier wegfahren. Sie dürfen hier nicht parken!“

„Ich parke hier nicht. Ich halte hier.“

„Sie müssen trotzdem wegfahren.“

„Das kann ich gern tun, würde es aber lieber nicht.“

„Wieso das denn?“

„Sie sehen, dass ich direkt vor dem Sanitätshaus stehe. Drin steht meine schwangere Frau, die nur unter Schmerzen laufen kann. Ich halte hier, damit sie direkt einsteigen kann.“

„Ja, aber Sie dürfen hier nicht stehen bleiben.“

„Sie möchten also, dass ich – obwohl ich niemanden hier störe – wegfahre und meine Frau Schmerzen haben wird, weil sie nicht direkt ins Auto kann?“

„Sie müssen wegfahren, sonst bekommen sie ein Verwarngeld.“

Ich fuhr dann dreimal um den Block und habe meine Frau glücklicherweise noch abpassen können. Geärgert habe mich trotzdem. Die Sache hatte aber ein Gutes. Sie ist ein schöner Aufhänger für diesen Beitrag. Mein Disput mit der unleidlichen Parkraumüberwacherin vulgo „Politesse“ berührte nämlich die für Unternehmen entscheidende Frage, ob bestehende Regeln immer eingehalten und wann sie gebrochen werden sollten.

Kluge Regeln & Standards

In jedem Unternehmen etablieren sich nach der Gründungsphase geregelte Prozesse, die das Produkt generieren und die so angelegt sind, dass der angestrebte Output möglichst effizient erreicht wird. Diese Prozesse funktionieren gut, solange nichts Unvorhergesehenes passiert. Passiert doch etwas Unvorhergesehenes, bedarf es einer neuen Lösung.

Betrachten wir mein Parkproblem aus Unternehmersicht, mit mir als Kunden, der Verwaltung als Unternehmen mit dem Zweck, die bestmögliche Verkehrssituation für alle Bürger zu schaffen und der Parkraumüberwacherin als Service-Mitarbeiterin, so stellt sich die Frage, wie funktional die zur Anwendung kommende Regel in diesem Fall ist.

Das Parkverbot soll im weitesten Sinne ein möglichst gutes Funktionieren der Gesellschaft garantieren. Bei der erfolgten starren Auslegung war die Gesamtbilanz für die Gesellschaft in dieser Situation allerdings negativ. Die Anwendung der Regel hat in diesem Moment keinem geholfen, da ich niemanden sonst behindert habe, hatte aber für mindestens zwei Personen negative Auswirkungen. Wer Regeln so durchsetzt, den mag man nicht. Zurecht. Wie hätte man die Situation klug – mit positiver Bilanz – lösen können und was wäre dafür nötig gewesen?

Drei mögliche Lösungen

Die erste Möglichkeit wäre ein Regelbuch, in dem steht, was geschehen soll, wenn etwas Unvorhersehbares geschieht. Allerdings ist es das Wesen des Unvorhersehbaren, dass man es nicht vorhersehen kann. Ein regelhafter Prozess für einen Sonderfall lässt sich also nur im Nachhinein für den Fall einer eventuellen Wiederholung dokumentieren. Zudem würde die Dokumentation so viele Sonderfälle beinhalten – und mit jedem weiteren Sonderfall anwachsen – dass sich hinterher niemand mehr im Dokument auskennt und auch gar keine Lust hätte, jedes Mal nachzuschlagen. Prozess- und QM Handbücher werden zu Datenfriedhöfen.

Die nächste Möglichkeit ist „Management by Exception“. Der Vorgang wird an eine Führungskraft delegiert, die sich mit unvorhersehbaren Sonderfällen und im QM-Handbuch auskennt und befugt ist, eine Entscheidung zu treffen.

Die dritte Möglichkeit ist aus meiner Sicht immer zu bevorzugen: die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so gut zu schulen, dass sie die Notwendigkeit erkennen, eine Ausnahme von einer Regel zuzulassen oder eben nicht. Und ihnen die organisationale Rückendeckung zu geben, das auch zu tun.

Zoom out

Zoomen wir aus der Situation heraus, stellen wir fest, dass der kompetente Umgang mit Sonderfällen entscheidend für den Erfolg von Organisationen an einem sich wandelnden Markt ist.

Für die Standardsituation, in der die Organisation weiß, was zu tun ist, benötigt man gewissenhafte Mitarbeiter, die Prozesse einhalten. Aber wenn Sie daneben keine Mitarbeiter haben, die anders denken können, wenn die Situation eine andere wird, dann wird sie das Nokia-Schicksal ereilen.

Es ist für Unternehmen schwierig, ein Gleichgewicht zwischen den unternehmerischen/kreativen Typen und den administrativen Typen zu finden – oder idealerweise beides in einem Mitarbeiter funktional zu moderieren. Zudem performt auch dieser „Allrounder“ nur innerhalb der passenden Kultur.

Drei erfolgsentscheidende Umstände

  1. Wer Prozesse verlässt und Regeln situativ verändert, der macht zwangsläufig auch Fehler. Diese müssen lernorientiert gelöst werden, statt den Mitarbeiter zu stigmatisieren.
  2. Mitarbeiter müssen das größere Bild verstehen und die Konsequenzen von Regelaussetzung bewerten können.
  3. Diese Kultur muss durch Führung etabliert werden, welche die Mitarbeiter entsprechend anleitet, ihnen die Relevanz schon im Onboarding kommuniziert und diese selbst lebt.

Eine Bitte noch

Viele von Ihnen sind selbst Unternehmer oder Führungskräfte und wurden spätestens durch die Pandemie sehr flexibel auf neue Herausforderungen reagieren. Ich wünsche Ihnen, dass Sie dafür die passenden Mitarbeiter haben und möchte Ihnen zum Ende einen ganz konkreten Tipp geben:

Suchen Sie nach Menschen, die intelligent genug sind, unkluge Regeln zu erkennen, und die den Mut haben, diese Regeln auch ohne konkrete Anweisung situativ anzupassen. Im Klartext: Stellen Sie nicht diese Politesse ein!

Voting

Hier eine Beschreibung zum Voting.

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