Klartext? Oder die Klappe halten?
Wir sind heute so was von verdudelt. – Es ist kaum auszuhalten. Mega empfindlich. Echte Mimosen! Wir halten kein bisschen Klartext aus. Schade eigentlich, denn Klartext ist etwas Schönes.
Das sage ich nicht nur, weil ich der Sohn meiner Mutter bin, sondern vor allem, weil ich denke, dass Sie und ich als Menschen, die in der Öffentlichkeit ihre Stimme erheben, nur mit Klartext unserer Verantwortung gerecht werden.
Von Mutter lernen, heißt Klartext lernen
Ich habe noch nie einen direkteren Menschen kennengelernt als meine Mutter. Sie kommt aus dem Schwarzwald und jeder, der diese wunderschöne Ecke unseres Landes kennt, weiß: Dort ist Klartext Alltag. Schonungslos, direkt die Wahrheit sagen – und sich diese zumuten. Ungeschnörkelt. Und meine Mutter setzt noch einen obendrauf. Sie ist die „Queen of Klartext“. Für jemanden, der damit nicht aufgewachsen ist, klingt das oft zu hart. Aber das ist nicht so gemeint. Diese Ehrlichkeit ist ein Teil dessen, wie meine Mutter ihren Standpunkt anderen Menschen gegenüber mitteilt. Nämlich mit dem Visier oben. Ohne taktieren. Herrlich ehrlich.
Solche Ehrlichkeit ist im Grunde ein Geschenk. Deshalb fühlte ich mich als Bub aus dem Gäu lange auf der richtigen Seite, wenn ich ungeschnörkelte Direktheit an den Tag legte.
Doch ich wurde – na ja – klüger …
Zu sehr Klartext!
„Hey, Stefan, so kannst du das nicht machen, das ist unklug: Du bist viel zu direkt. Du bist einfach zu sehr Klartext!“, so meinte ein rhetorisch bewanderter Freund und riet mir, in meiner Ausdrucksweise mehr so zu sein wie er: diplomatisch, manchmal fast schon politisch, gefällig.
Damit sich die Leute nicht vor den Kopf gestoßen fühlen. Damit ich die Menschen besser erreiche und sie besser verstehen, was ich meine. Das sei viel klüger, meinte mein Freund.
Also fing ich an, meine Botschaften blumiger zu formulieren, sie klug zu bemänteln, rund zu schleifen und einzuseifen, damit sie auch schön in die Gehörgänge meines Gegenübers hineinflutschten.
Alles so schön gleitfähig hier
Ich war damit drauf und dran, einer von diesen aalglatten Typen zu werden:
Flutschig wie ein Politiker, dessen Botschaft hinter der Diplomatie und der daraus resultierenden Politik verschwindet, damit er ja keine Wähler vergrault – auch wenn dann keiner weiß, was er genau meint.
Flutschig wie einer, der es allen recht machen will – und es damit niemanden recht macht.
Flutschig wie jemand, der vor lauter Abwägen und kluger Diplomatie nicht mehr nicht mehr fähig ist, klar zu denken. Ein reiner Rhetoriker und Politiker eben.
Hier wird’s jetzt schizophren
Redet jemand nur diplomatisch, wortgewandt und uneindeutig, dann drängt sich bei mir oft das Gefühl auf: Hey, meint der wirklich, was er sagt? Ist der wirklich ehrlich? Und ich weiß: Mit diesem Gefühl bin ich nicht allein.
Auf der anderen Seite habe ich auch kapiert, dass „ehrlicher Klartext“ ein gewisses Maß an Rhetorik braucht. Denn schonungslos offen will keiner die Botschaften des anderen an den Kopf geknallt bekommen. Wer nicht gerade aus dem Schwarzwald stammt, wird das Gesagte sonst kaum annehmen können.
Unterm Strich ist die Lage also schon etwas schizophren:
– Die wenigsten von uns sind daran gewöhnt, mit Klartext umzugehen. Klartext überfordert sie. Klartext ist inzwischen schon so weit vom glatten Mainstream entfernt, dass sie ihn gefährlich finden.
– Gleichzeitig sehnen wir uns alle nach mehr Klartext, nach einem Zusammenleben ohne Visier, nach Ehrlichkeit, nach Wahrhaftigkeit, nach dem Mut, so frei zu sein, Klartext zu denken und ehrlich zu sagen, was wir für richtig und wichtig halten.
Das gilt’s auszuhalten
Sie und ich als Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, die andere Menschen führen, Sie coachen oder entwickeln, müssen diese Schizophrenie aushalten und müssen mit ihr klarkommen.
Wir dürfen nicht einseitig in pure Diplomatie verfallen (auch wenn die Sprachpolizei ein solches Verhalten eher gut finden würde). Wir dürfen aber auch nicht, selbst wenn Muttern das vorgelebt hat, einzig und allein schonungslos offen dem anderen den Klartext an den Kopf knallen.
Lassen Sie uns die Menschen mit Wahrhaftigkeit impfen: Mit einem Gegengift gegen Lüge und pure Rhetorik. Mit einem Gegengift, das aber auch die Brutalität des reinen Klartextes abmildert und erkennen lässt, dass wir in wertschätzender, weil ehrlicher Haltung sprechen.
Das Ziel ist die goldene Mitte. Für die gibt es einen schönen Namen: Respekt. Respekt vor unseren Mitmenschen und vor uns selbst.