Macht endlich Schluss mit dem Jugendwahn im Marketing.

Als Marianne Müller 60 war, beschloss sie, sich keine neuen Kleider mehr zu kaufen. „Das lohnt sich nicht mehr“, sagte sie und ließ sich auch vom Widerspruch ihrer Kinder und Enkelkinder nicht irritieren. Sie war sparsam und uneitel. Marianne Müller wurde schließlich 94 Jahre alt.

Diese kleine Geschichte aus dem Jahre 1970 beschreibt ganz gut die damaligen Verhältnisse. Sie bildet die seinerzeit herrschende gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität passend ab. Die Menschen starben deutlich früher als heute und ihre Ansprüche gingen mit steigendem Alter rapide zurück. Die Perspektive der Älteren war eine völlig andere. Von der Gesellschaft, der Politik und der Wirtschaft wurden sie kaum wahrgenommen. Die Menschen gingen mit 65 in Rente und starben mit durchschnittlich 70 Jahren. Für die Unternehmen waren sie keine interessante Kundengruppe. Damals sollte man mit 45 seinen letzten beruflichen Schritt gemacht und die letzte Beschäftigung vor der Rente gefunden haben. Nach dem 50. Geburtstag galt man als alt. So früh wie möglich Platz für die Jüngeren zu machen, war die politische und unternehmerische Maxime, die gefördert wurde. So früh wie möglich in den wohlverdienten Ruhestand zu wechseln, war das größte Ziel ganzer Arbeitnehmer-Generationen. Sie machten ihren Job, um die Familie zu versorgen. Waren sie dann zwangspensioniert und in die Rente abgeschoben, wurden sie als Kunden allenfalls für Reformhäuser und Seniorenresidenzen interessant. Als wirtschaftliches Potenzial existierten sie nicht. Für die meisten Unternehmen waren die Rentner schon auf dem Weg zur letzten Ruhestätte.

„Die alten Kunden sterben uns weg, wir brauchen dringend und immer wieder junge Kunden“, war das durchaus einleuchtende Argument dafür, dass sich die Werbeabteilungen ausschließlich um die Werbung junger Kunden kümmerten. Sie waren die wichtigste Quelle für Umsatz und Erträge. So dominierte die Jugend bis in die 1990er Jahre das komplette Marktgeschehen und die Strategien ganzer Managergenerationen. Es war die Zeit des sogenannten Fließband-Konzeptes: Solange auf der einen Seite mehr junge Neukunden gewonnen wurden, als auf der anderen Seite alte Kunden durch Abwanderung oder Tod verloren gingen, war die Welt in Ordnung.

Auch deshalb kennen sich die Marketing- und Vertriebsleute heute immer noch bestens im Jugendmarketing aus. Das läuft schon seit mindestens einem halben Jahrhundert so. Und weil sich alle bestens damit auskennen, wird es nach wie vor favorisiert und weiter perfektioniert, auch und gerade deshalb, weil es heute immer weniger junge Menschen gibt. Dabei kennt die Kreativität keine Grenzen. Geld spielt fast keine Rolle und kein Budget ist groß genug. Die Devise lautet: „Klotzen statt kleckern“.

Wer stattdessen auf die massive Verschiebung der Markt- und Machtverhältnisse zwischen jungen und älteren Kunden hinweist, wer auf die reichste und einzige wachsende Kundengruppe setzen will, wird von den Ignoranten und Besserwissern schnell eingebremst. Faszinierend ist, dass meistens die jungen Marketingleute die Zeichen der Zeit erkennen und auf die neuen Realitäten aufmerksam machen. Zurückgepfiffen werden sie oft genug von den älteren Vorständen und Führungskräften, die selbst die langfristigen Konsequenzen ihrer Borniertheit nicht mehr tragen müssen, weil sie aus dem Unternehmen ausgeschieden und im gut bezahlten Ruhestand sind.

Manchmal nimmt diese Haltung eigenartige Züge an. Viele Unternehmen starten ihre Marketingkonzepte schon bei der Geburt, so wie Windelproduzenten, Babynahrungshersteller oder Banken und Sparkassen. Hier erhalten die Eltern bei der Geburt seit 50 Jahren einen Spargeschenk-Gutschein, der auf ein neues Sparbuch oder Konto gutgeschrieben werden kann. Ein paar Jahre später bindet man die Kleinkinder und Grundschüler mit Kinderclubs, Clubkarten, Clubtagen und einer Vielzahl von Geschenken. Jugendliche kommen als Mitglieder im Jugendclub in den Genuss vieler Vorteile und Veranstaltungen. So wurden von den Kreditinstituten für viel Geld Jugendbanken gebaut und eingerichtet sowie für junge Erwachsene kostenlose Girokonten bereitgehalten. Kindergärten, Schulen und Vereine erhalten Spenden und immer wieder aufs Neue werden Agenturen beauftragt, die raffiniertesten Marketingkampagnen zu erfinden.

Gerade die Finanzinstitute investieren oft 25 Jahre lang unglaublich viel Geld und Energie in der Hoffnung, dass die so Umworbenen zu langfristig loyalen Kunden heranreifen, ihre Finanzgeschäfte abschließen und irgendwann einen Beitrag zum Ertrag leisten. Eine wirkliche Bestätigung für die Richtigkeit dieser Vorgehensweise gibt es bis heute nicht. Denn die meisten Banken und Sparkassen verlieren gerade bei den jungen Erwachsenen seit Jahrzehnten Marktanteile. Trotzdem werden die Konzepte selten hinterfragt oder in ihrer Struktur weiterentwickelt. Die Lemminge lassen grüßen.

„Die Verbraucher über 60 Jahre werden 80 Prozent des Konsumwachstums in Deutschland treiben“, sagte Jesko Perrey, weltweiter Leiter der Marketingberatung bei McKinsey. „Unternehmen müssen ihre Produkte, Dienstleistungen und ihr Marketing auf das Segment 60plus ausrichten. Die simple Glorifizierung der Jugend im Marketing ist vorbei“, sagt Perrey.

Dem ist nichts hinzuzufügen. Unternehmen aller Branchen müssen sich vom ausschließlichen Fokus auf die Jugend lösen, wenn sie künftig erfolgreich sein wollen.

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