Remote ganz nah – Anmerkungen zu einem Missverständnis

Wissen Sie, was „Remote Leadership“ wortwörtlich bedeutet? Meistens wird es mit „Führen auf Distanz“ übersetzt. Wenn wir aber „remote“ im Wörterbuch nachschlagen, dann finden wir eine Menge Bezeichnungen bzw. Bedeutungen, die eigentlich überhaupt nicht auf das passen, was wir im Kontext von Führung meinen. Denn es geht ja nicht darum, als Führungskraft weit weg zu sein, den eigenen Mitarbeitenden fern, sondern wir möchten die Kunst beherrschen, auch dann genauso nah zu sein und unsere Rolle als Führungskraft optimal auszufüllen, wenn wir mit den Mitarbeitenden nicht direkt vor Ort physisch zusammenarbeiten.

Wir wollen ein wenig das Unmögliche möglich machen. Im Idealfall soll Führung auf Distanz kein Nachteil sein, sondern vielleicht sogar Vorteile haben.

In der Tat gibt es ein paar Vorteile. Und vielleicht haben Sie auch die eine oder andere Führungskraft im Hinterkopf, bei der Sie sagen, da wäre etwas mehr Ferne und Distanz herzlich willkommen. Führungskräfte, die schon in der physischen Zusammenarbeit – auch eine Formulierung, die noch nicht ganz stimmig klingt – von Ihren Mitarbeitenden nicht als positiv wahrgenommen wurden, haben in der Führung auf Distanz meist noch größere Probleme. Denn virtuelle Zusammenarbeit ist wie ein Brennglas. Was schon im direkten Face-to-face-Zusammenarbeiten nicht gut klappt, funktioniert mit Abstand meistens noch schlechter. Wer ein Problem hat, seinen Mitarbeitern zu vertrauen, für den wird dies in der virtuellen Zusammenarbeit meist noch schwieriger.

Dabei bietet die virtuelle Zusammenarbeit viele Vorteile, die Führungskräfte aktiv nutzen sollten. Ein wesentlicher ist die Möglichkeit, regelmäßig 1:1 Gespräche mit den Mitarbeitenden zu führen. In vielen Unternehmen hat erst Corona dazu geführt, dass Führungskräfte sich alle ein bis zwei Wochen mit jedem Teammitglied zu einem kurzen Gespräch jenseits des Tagesgeschäfts treffen. Physisch wäre das gar nicht möglich. Insofern ist Remote Leadership eine große Chance, den Anteil aktiver Führung deutlich zu erhöhen.

Neben der reinen virtuellen oder physischen Zusammenarbeit gibt es noch den Mix, die Zwischenwelt, neudeutsch „Hybrid Work“ genannt, die wohl für die meisten von uns das „neue Normal“ darstellen wird. Eine Arbeitswelt, die fließend wechselt zwischen der rein virtuellen, also Remote-Zusammenarbeit und einem Mix mit Mitarbeitenden und Führungskräften, von denen die einen vor Ort im Büro sind und die anderen an irgendeinem Ort dieser Welt, im Homeoffice oder vielleicht im Büro beim Kunden, wo auch immer. Im Idealfall vereint das hybride Arbeiten das Beste aus beiden Welten. Nicht selten ist es leider jedoch ganz anders. Denn die hybride Zusammenarbeit ist noch einmal komplexer. Jeder, der schon einmal an einem Meeting teilgenommen hat, in dem einige Kolleginnen und Kollegen nur online zugeschaltet waren, hat dies möglicherweise schon selbst erfahren. Wie kann ich verhindern, dass die nur virtuell zugeschalteten Kollegen und Kolleginnen sich nicht als Teilnehmende zweiter Klasse empfinden? Dafür braucht es Spielregeln wie „virtual first“ und Übung. Und natürlich macht es einen Unterschied, wenn ein Teil des Teams jeden Tag ins Büro kommt und dort direkt in einem Raum zusammenarbeitet, mittags gemeinsam Essen geht, während die andere Hälfte im Homeoffice arbeitet und die Kolleginnen und Kollegen sowie die eigene Führungskraft nur in Online-Meetings live erleben.

Hybride Zusammenarbeit ist quasi die nächste Stufe, noch einmal komplexer und herausfordernder als „nur“ remote zusammenzuarbeiten. Das Ganze ist auch konfliktträchtiger, da die schöne neue Arbeitswelt auf das alte Steinzeithirn trifft. Und das fragt sich vielleicht aus der Perspektive des Homeoffice, warum der neue Kollege immer genau dann im Büro ist, wenn meine Teamleiterin auch ihren Office-Day hat. Stört mich das? Hm, irgendwie schon. Zumindest frage ich mich, ob es etwas zu bedeuten hat. Spreche ich mein Unbehagen offen an? Nein, irgendwie hat sich das bisher nicht ergeben. Und die neue Kollegin habe ich ja auch noch gar nicht richtig kennengelernt oder zumindest nur remote.

Jeder kann sich jetzt die Geschichte noch weiter ausmalen. Konflikte, die nicht bearbeitet werden, haben die Angewohnheit, auf der Eskalationstreppe weiter nach oben zu wandern. Und so zeigt das kleine Beispiel, dass Zusammenarbeit in hybriden Arbeitswelten und die damit notwendige hybride Führung auch psychologisch und kommunikativ eine große Herausforderung für alle Beteiligten darstellt.

Gefragt sind nicht nur Spielregeln, Skills und Tools, sondern vor allem Empathie. Uns allen muss bewusstwerden, dass virtuelle Arbeit und Zusammenarbeit den gleichen psychologischen Mechanismen unterliegt wie die Arbeit vor Ort. Es ist jedoch noch herausfordernder und komplexer.

Und es gelingt nur, wenn wir Vertrauen haben. Vertrauen entsteht durch Nähe. Und genau deshalb ist Remote Leadership eigentlich der falsche Begriff. Denn jede Führungskraft muss in Remote Work die Kunst beherrschen, trotz aller Herausforderungen und der realen Distanz Nähe und Vertrautheit herzustellen. Remote ganz nah!

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