Traum oder Alptraum? Arbeiten in der Finanzbranche

Gerade sitze ich am Rechner und schaue meine E-Mails durch. Ich bleibe an der Betreffzeile «Unser Traum» von einer gewissen Anna hängen. Noch mehr Spam, denke ich und will gerade auf «Löschen» klicken, als mein Blick über den Vorschautext schweift. Persönliche Anrede, ein Hinweis darauf, dass sie mich aus einem Seminar kennt – das macht mich nun doch neugierig.

Ich lese weiter: «Ich befinde mich zurzeit in einer Phase meines Lebens, die für mich sowohl wertvoll als auch beängstigend ist. Ich bin 31 Jahre alt, Bankbetriebswirtin, Privatkundenberaterin und vertrieblich erfolgreich. Nun habe ich festgestellt, dass mein Beruf mich nicht (mehr) glücklich macht. Diese Erkenntnis ist fast härter als die Einsicht, dass ich privat unglücklich bin. Können wir in Kontakt treten?»

Annas E-Mail ist ausführlich und emotional. Sie handelt von Wut gegenüber Ihrem Arbeitgeber. Von Kollegen, die ganz ähnlich denken. Von Lustlosigkeit. Von Werten, die verloren gegangen sind. Ich suche sie bei Google. Jetzt, wo ich ihr Bild sehe, erkenne ich sie sofort: Sie war vor etwa drei Jahren bei mir in einem Vertriebstraining und ist mir als authentische, toughe Beraterin in Erinnerung geblieben. Ich stelle zu dieser Anfrage einige Überlegungen an, rolle ein paar Gedanken in meinem Kopf hin und her: Ich bin doch kein Lebensberater und kein Seelsorger! Andererseits geht es um ihren Beruf, um ihre Arbeit in der Bank, um so viel Frust und Ohnmacht. Und mehr noch: Es betrifft nicht nur sie, sondern offensichtlich so viele Menschen aus der Branche …

Also los! Wir telefonieren und Anna beschreibt mir nochmals genauer, was sie fühlt und denkt. Momentan arbeitet sie mit einem Coach, und der fragte danach, ob sie Menschen kennen würde, die ihren beruflichen Traum leben. «Da habe ich sofort an Sie gedacht, Frau Schramm! Und so kam der Wunsch in mir auf, mit Ihnen in Kontakt zu kommen.» Ich bin sehr berührt und frage Anna, welchen Traum sie selbst denn hat. Wir tauschen uns intensiv aus und am Ende sage ich zu ihr: «Das ist doch genau das, was Sie als Beraterin in der Bank machen können!» Langes Schweigen am anderen Ende der Leitung.

Zweifelhafte Spekulationsgeschäfte. Zu hohe Boni. Geldwäsche. Geschäftsstellenschliessungen. Wir leben in einer Zeit, in der solche und andere Skandale für Zündstoff in der Öffentlichkeit sorgen. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich Mitarbeiter von Banken und Sparkassen die Sinnfrage stellen. Sie haben die Zeichen der Zeit längst erkannt. Und machen sich zu Recht Sorgen um die eigene Zukunft.

Der Diplompsychologe Winfried Berner beschreibt in seiner Expertise über die reflektorische Bedrohlichkeitsprüfung und ihre Folgen auf verständliche Weise, warum es zu solchen Reaktionen kommt: Sobald sich eine Situation verändert, wir uns auf etwas Neues einstellen müssen oder mit etwas Unvorhersehbarem konfrontiert werden, fragen wir uns: Warum? In der Regel passiert das unbewusst, doch es passiert.

Ist die Situation bedrohlich für uns und haben wir das Gefühl, wir können sie nicht bewältigen, dann greift unser Notsystem. Flucht ist eine naheliegende Reaktion, einfach weg von allem. Anna erzählte mir, dass in ihrem Kollegenkreis viele von sich aus gekündigt haben und in andere Branchen gewechselt sind. Angriff ist ein anderer Ausdruck für Panik: Wir werden motzig und schnippisch – so wie Anna, wenn sie beispielsweise die Geschäftspolitik ihrer Bank infrage stellt und ihr Wertesystem verschoben sieht. Die dritte Möglichkeit ist Totstellen. Wir stellen uns leblos und zeigen kein Engagement mehr. «Dann mache ich eben auch nur noch Dienst nach Vorschrift», sagt Anna – genau hier ist dieser Fall also eingetroffen.

Alle diese Reaktionen sind deutliche Zeichen dafür, dass das Warum der eigenen Tätigkeit unbedingt hinterfragt werden muss. Nur so gelingt es uns, auch in Zukunft mit Spass und Freude zur Arbeit zu gehen. Denn wenn wir wissen, warum etwas geschieht oder warum wir etwas tun, und uns dadurch nicht mehr bedroht fühlen, dann sind wir auch bereit, Chancen zu prüfen und zu schauen, wie wir es schaffen, aus unserem eigenen Bereich Wert zu schöpfen. Oftmals verschliessen wir jedoch vor Veränderungen die Augen. Wir fragen uns, warum, und haben Angst vor (noch) mehr Zündstoff. Dann greift unsere genetisch angelegte Abwehrstrategie: Wir blocken ab in der Hoffnung, dass uns das dann nicht trifft. Und das mündet in unausweichlichem Stillstand.

Ich schicke Anna die Grafik und erkläre sie ihr am Telefon. Sie schweigt eine ganze Weile. Auf einmal sagt sie: «Stimmt. Ich weiss doch genau, warum ich Bankkauffrau geworden bin. Ich will immer noch Kunden die besten Tipps rund um ihr Geld geben, aber anscheinend lasse ich mich zu sehr von den anderen runterziehen. Vielleicht gelingt es mir doch noch, in meinem Mikrokosmos meine Kunden davon zu überzeugen, dass nicht alle Banken Verbrecher sind!»

Wir vereinbaren, dass sich Anna gern wieder melden kann, wenn ihr Notsystem wieder Alarm schlägt. Ein paar Wochen später erreicht mich folgende Mail: «Liebe Frau Schramm, ich gehe jetzt mit einem leichteren Gefühl durch meinen Tag bei der Bank und sehe wieder mehr Sinnhaftigkeit in meinem Beruf!»

Was also tun, wenn der Traumberuf zum Albtraum wird? Wenn das Umfeld für ausreichend Zündstoff sorgt und wir uns bedroht fühlen? Nehmen Sie die Zeichen ernst! Prüfen Sie Ihre Chancen! Und blicken Sie geradeaus in die Zukunft!

«In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst!»

So hat es der bekannte Philosoph Augustinus formuliert. Diese Aussage sorgt dann für Zündstoff, wenn nicht mehr klar ist, warum man für etwas brennen soll. Ich bin überzeugt, dass sie uns im Vertrieb in die Zukunft führt – egal, wie die Zeichen stehen. Also: Brennen Sie noch?

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