Traum

Die Luft steht drückend im Tagungssaal des Hotels, die Beiträge plätschern ermüdend dahin. Bis zum Auftritt meines Kunden, der mich als Beobachter und Feedbackgeber eingeladen hat, ist noch etwas Zeit. Ich mach‘s mir auf dem Stuhl bequem. Sicherheitshalber nehme ich den Ellbogen von der Lehne, um nicht ruckartig zusammenzusinken, falls ich einnicke.

Das gleichförmige Gerede vorn bietet eine wunderbare Kulisse, um den eigenen Gedanken nachzuhängen. Eines der Pausengespräche von vorhin geht mir durch den Kopf, vage Prognosen, wie die Zeit nach Covid wohl aussehen wird. Mit einem feinen, entfernten Rauschen beginnt die Lüftung zu arbeiten. Ein angenehmer Lufthauch berührt meinen Nacken, meine Augenlider werden schwer.

Erstaunt und irgendwie belustigt stelle ich fest, dass sich der Tagungsraum – ohne dass ich es im Geringsten bemerkt hätte – komplett verändert hat. Gedämpftes Licht, undeutliches Gemurmel, eine Art Theateratmosphäre umgibt mich. Als säße ich in den hinteren Reihen eines schummrigen, verrauchten Varietés, zeichnen sich die dunklen Umrisse der Zuschauerköpfe deutlich gegen eine hell erleuchtete, leere Bühne ab. Eine bunte Glühbirnen-Girlande leuchtet auf.

Trommelwirbel. Ein Nummerngirl im Badeanzug kündigt unter heftigem Applaus den nächsten Redner an. Auf dem großen Pappschild lese ich in breiten Pinselstrichen: „Heute: Top Redeshow!“

Die Kegel der Scheinwerfer beginnen zu tanzen, atemlose Stille im Publikum.

Federnd und dynamisch eilt von links ein sportlich-elegant gekleideter Mittvierziger auf die Bühne. Kaum stehengeblieben, setzt er sprudelnd zu sprechen an. Die Worte schießen in rasender Geschwindigkeit aus seinem Mund. Gerade als ich mich frage, was ihn so schwer verständlich macht, wird mir klar, dass er den jeweils nächsten Satz in den ersten hineinschiebt, als wolle er die durchs Sprechen vergeudete Zeit wieder einholen. Eine breite Sturzflut aus unkenntlicher Bedeutung ergießt sich auf uns, perlt ab und versickert. Welch ein Schauspiel! Fasziniert beobachte ich das Geschehen.

„Nachher gibt es heiteres Typen-Raten“, raunt mir mein Sitznachbar zu. „Das ist Teil der Show. Überleg schon mal einen passenden Namen für ihn.“

Erneuter Trommelwirbel. Unter den peitschenden Trompeten der Kapelle stürmt der nächste Redner nach vorn. Kaum zum Stehen gekommen, wirft er auffordernd die Hände nach oben, peitscht mit den ersten Worten auf die ersten Sitzreihen ein. Tumult entsteht, vereinzelt reißt es Zuschauer von den Stühlen. Begeisterte Gesichter. Des Redners Stimme überschlägt sich, seine Halsadern treten hervor. Begeistert wirft das Publikum seine Sätze wie Gummibälle zurück auf die Bühne. Tosender Applaus. Der Vorhang fällt abrupt.

Erschöpfte Stille. Ein schmaler Scheinwerferkegel holt die nächste Kandidatin ab, die sich mit angespannter Miene aus der Mitte des Vorhangs nach vorn zwängt. Ihr Thema scheint kompliziert, denn sie spricht, als müsste sie sich die Sache zuallererst selbst erklären. Ihre Blicke suchen nach der offensichtlich gut versteckten Struktur ihrer Rede, einmal in der seitlichen Ecke, einmal am Boden. Vom Tuscheln im Publikum irritiert, beginnt sie auf und ab zu gehen, fünf Schritte nach rechts, fünf Schritte nach links. Der Mann am Scheinwerfer hat Mühe ihr zu folgen. Links, rechts, links, rechts. Ich muss an die Kopfbewegungen der Zuschauer beim Tennismatch denken. Mein Hals schmerzt.

Ein Mann mit großer Brille tritt auf. Interessierte Neugier im Publikum. Unschlüssig, wo er beginnen soll, suchen seine Hände nach Halt in der Luft. Mit einem Ruck beginnt er zu sprechen, die Stirn gerunzelt. Wie lange Fäden winden sich die Sätze aus seinem Mund, tanzen unentschlossen, einer nach dem anderen. Als geschwungene Buchstabenfäden bleiben sie links und rechts neben ihm in der Luft stehen, verknoten sich, bilden verschlungene Themenfetzen. Immer dichter wird das Gewirr aus Worten, Zahlen, Namen. Der bebrillte Redner verschwindet immer mehr hinter dem erstarrten Nebel aus Wortblasen. Ein Windstoß verwirbelt das Wortdickicht, die Bühne ist wieder schwarz und leer. Starker Applaus, die Kapelle spielt einen Tusch.

„Die originellste Bezeichnung gewinnt!“, ist die Stimme des Ansagers zu hören. „Machen Sie mit beim heiteren Typen-Ratespiel, nach unserem nächsten Kandidaten!“ Das Nummerngirl zaubert bunte Abbildungen der Preise hinter ihrem Rücken hervor, das Publikum feixt.

Unbemerkt hat der letzte Kandidat auf einem Stuhl in der Mitte der Bühne Platz genommen. Dass er schon begonnen hat, ist im Trubel völlig untergegangen. Irgendwie wirkt er verloren und allein. Als wäre jede Bewegung zu viel, sitzt er da, klein und unscheinbar. Kaum hebt er den Blick beim Sprechen, der Ton seiner Stimme wird zu Staub, bevor er uns erreicht.

Neben mir höre ich ein Seufzen. „Der Energiesparer ist der Schlimmste!“, raunt mir mein Nachbar zu. Ich merke, dass mir die Aufmerksamkeit entgleitet. Alles wird schwer. Mit einem Ruck schrecke ich auf. Verstohlen schaue ich nach links und rechts. Vorn klappt gerade der Abteilungsleiter seinen Laptop zu und verlässt mit einem erlösten „Danke!“ den Platz am Podium. Schwacher Applaus verklingt.

Ich strecke mich verstohlen, hole Notizblock und Füllfeder aus meiner Tasche und gieße Mineralwasser ins Glas nach. Der Moderator greift zum Mikrofon und kündigt meinen Kunden als nächsten Redner an. Neugieriger Applaus begrüßt ihn.

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